Meine jüdischen Eltern, meine polnischen Eltern
Ich habe nur deshalb überlebt, weil meine Eltern imstande waren, sich von mir zu trennen.
Ich wurde 1939 in Warschau in der Klinik „Vita“geboren, die in der Żelazna-Straße lag und meiner Familie gehörte. Das genaue Datum kenne ich nicht; es war am 15. oder 17. Januar oder auch Februar. Meine Mutter, Leontyna Temerson, geb. Saks, war Polonistin, mein Vater, Stanisław Temerson, war Internist. Bis 1942 lebte ich mit meinen Eltern im Warschauer Ghetto. Die dortigen Lebensbedingungen waren von Tag zu Tag schwerer zu ertragen. Meine Eltern, denen klar war, dass sie selbst nicht mehr für meine Sicherheit sorgen konnten, entschlossen sich daher, mich meiner Tante Antonina anzuvertrauen, der Schwester meiner Mutter. Ende 1942 / Anfang 1943 brachte meine Kinderfrau mich in verlaustem Zustand und mit Frostbeulen an den Händen aus dem Ghetto und weiter nach Kattowitz* [Katowice]. Dort wohnte die Tante, die selbst so genannte „sichere Papiere“* besaß, mit ihrem Mann und einem kleinen Sohn. Doch da ihr Mann, ein deutschstämmiger Pole, die Volksliste* nicht unterschrieben hatte, meinte sie, dass es gefährlich für ihre Familie werden könnte, wenn dort plötzlich ein fremdes Kind auftauchte. Also gab sie mich an ihre kinderlosen polnischen Bekannten Czesława und Jan Otrębski weiter.
Diese wurden jetzt meine Eltern, verrieten aber mit keiner Silbe, dass ich ihre Adoptivtochter war. Doch sie haben auch nie erfahren, dass ich ihr Geheimnis kannte
Meine neuen Eltern zogen mit mir sofort nach Łódź um und später nach Skarżysko-Kamienna, wo sie viele Bekannte hatten. Dort wohnten wir in einem kleinen Haus am Stadtrand fast bis zum Ende des Krieges.Die meiste Zeit verbrachte ich mit meiner Mutter, da Vater außerhalb der Stadt arbeitete und sich später versteckt hielt,weil er der Untergrundbewegung angehörte. Meine Mutter war damals eine heitere und fröhliche Frau, spielte mit mir, las mir vor, sang Lieder und bastelte wunderschönes Spielzeug als Weihnachtsbaumschmuck. Sie bemühte sich, mir trotz des Krieges ein glückliches Heim zu schaffen. Ich erinnere mich, dass meine Eltern ein paar Monate lang keinen Zucker aßen, um mir einen lang gewünschten Plüschteddy kaufen zu können. Das Kriegsende feierten wir in Łódź, wo die Familie meiner polnischen Eltern lebte. Dort fand das Treffen statt, das mein ganzes weiteres Leben bestimmte. Anwesend war auch eine entfernte Verwandte, Róża W., die im Namen der in Brüssel lebenden Schwester meines Vaters Stanisław Temerson Anspruch auf mich erhob. Da meine polnischen Eltern, Czesława und Jan Otrębski, mich aber wie ihr eigenes Kind liebten und es ihnen gelang, die Tante zu erweichen, wurden wir nicht getrennt. In Łódź hatte ich ein richtiges Zuhause mit einer Menge Nenntanten und -onkel. Ich war umgeben von der sorgenden Liebe meiner Eltern. Als ich an Typhus erkrankte, saß meine Mutter tagelang an meinem Bett, las mir vor und hielt meine Hand. Sie nähte mir selbst Kleider und flocht mir aus Bindfäden Sandalen und Hüte. Ich war stets angezogen wie ein Püppchen. Mein Vater ging mit mir spazieren, fuhr mit mir Schlitten und baute mir eigenhändig ein Puppenhaus, bewunderte mein Klavierspiel (damals begann ich mit dem Unterricht in der Musikschule). Ich war Papas Prinzessin. Als mein Vater 1947 Vertreter der Firma GAL (Gdynia-America Shipping Lines) in der Tschechoslowakei wurde, setzte ich mein Musikstudium in Prag fort und ging auf eine tschechische Oberschule. Dort machte ich 1956 das Abitur. Wir kehrten nach Polen zurück und ich begann ein Studium an der Universität Warschau. Die Belastungen, der meine Mutter während der Kriegszeit ausgesetzt gewesen war, hatten zur Folge, dass sie an einer manisch-depressiven Psychose erkrankte. Als die Symptome stärker wurden, musste sie ins Krankenhaus. Vielleicht fürchteten meine Eltern deswegen auch um meine Gesundheit. Sie hielten mich für sehr zart und meine psychische Kondition für schwach. Sie wollten mir den Schock ersparen und verheimlichten mir deshalb, dass ich nicht ihre leibliche Tochter war. Die Familie und Freunde kannten die Wahrheit, gaben das aber nie zu erkennen. Meine Eltern unterhielten bereits seit 1946 Briefkontakt mit meinen jüdischen Verwandten und ermunterten mich auch dazu. Und ich dachte mir nichts dabei und hielt sie für Nenntanten und -onkel. Die Wahrheit erfuhr ich erst während meines zweiten Aufenthalts bei meiner Tante in Brüssel. Damals war ich 26 Jahre alt. Ich respektierte den Willen meiner Eltern: sie haben nie erfahren, dass ich ihr Geheimnis kannte. Sie und ich verbargen die Wahrheit aus Liebe.
Małgorzata Otrębska
schloss ein Studium der arabischer Philologie an der Universität Warschau ab. Sie arbeitete als Fremdenführerin, Übersetzerin aus dem Tschechischen (vereidigte Übersetzerin) sowie als Korrektorin in Zeitungsredaktionen. Sie ist eine begeisterte Seglerin. Sie gehört der Gesellschaft „Kinder des Holcaust“ in Polen an. Sie hat einen Sohn und zwei Enkelkinder
eltern
Czesława Otrębska
geb. Zielińska
(1907–1993)
hatte Konservatoriums-Abschluss in der Klavier-Klasse. Als Mutter war sie warmherzig und zärtlich, sie freute sich über jeden meiner Erfolge.
Leontyna Temerson
geb. Zaks
(1909 –1943?)
Vor ihrer Eheschließung arbeitete sie als Polnisch-Lehrerin, danach half sie ihrem Mann in seiner Arztpraxis. Sie war eine schöne Frau voller Charme. Ich kenne ihr Gesicht nur von einer Fotografie.
Jan Marek
Otrębski
(1908–1966)
schloss die Hochschule für Welthandel in Wien im Spezialfach Seetransport ab. Vor allem aber war er mein geliebter und sehr attraktiver Vater, der beste, den man nur haben konnte.
Stanisław
Temerson
(1903–1943?)
Als Gymnasiast meldete er sich zu den Linientruppen und nahm am Feldzug 1920 gegen Sowjet-Russland teil. Auch im Warschauer Ghetto arbeitete er als Arzt in verschiedenen medizinischen Versorgungsstellen.