Meine jüdischen Eltern, meine polnischen Eltern
Meine leiblichen Eltern müssen gewusst haben, dass sie in den Tod gehen; denn sonst hätten sie mich mitgenommen
Ich wurde am 31. Juli 1939 in Warschau geboren. Meine ersten Lebensjahre verbrachte ich mit meinen leiblichen Eltern im Ghetto. An ihre Gesichter kann ich mich nicht mehr erinnern; ich erinnere mich an nichts mehr. Wahrscheinlich gingen sie beide im April 1943 auf den Umschlagplatz. Ich nehme an, sie konnten sich nicht von mir trennen. Sie warteten bis zur letzten Minute und rechneten mit einem Wunder. Und das Wunder geschah. Ich habe überlebt. Ein blauer Polizist* brachte mich zu Wanda Nicz, der Lehrerin meiner leiblichen Mutter. Sie kannte mich gut, weil meine Mutter sie zusammen mit mir besucht hatte, als sie das Ghetto durch die Kanalisation verlassen hatte. Ich war ein einem elenden Zustand, schmutzig und verlaust. An meiner Kleidung hing ein Zettel mit ihrer Adresse in Żolibórz. Das war am 18. April 1943. Frau Nicz konnte mich jedoch nicht bei sich behalten, weil sie bereits das Töchterchen ihrer Kusine bei sich versteckte; aber sie fand neue Eltern für mich.
Im Alter von 18 Jahren erfuhr ich, dass ich eine Jüdin bin
Ans Ghetto erinnere ich mich nicht mehr; ich erinnere mich an nichts und niemand mehr aus dieser Zeit. Mein Leben begann am 2. Mai 1943 in der Wilcza-Straße bei meinen polnischen Eltern. Damals war ich fast vier Jahre alt. Bei ihnen war ich sicher aufgehoben und überlebte den Krieg. Mit meinen Eltern teilte ich Freude und Leid. Im Winter 1943 kam mein Vater als Geisel ins Pawiak-Gefängnis*. Tagtäglich ging meine Mutter mit mir in die Stadt, um auf den ausgehängten Listen mit den Namen der Erschossenen nachzusehen, ob dort sein Name stand. Glücklicherweise kam er nach einigen Monaten wieder zurück. Nach dem Krieg, in der stalinistischen Zeit, saß mein Vater als „Wirtschaftssaboteur“ sechs Jahre lang im Gefängnis. Meine Mutter, eine Russin, sprach nicht sehr gut Polnisch und musste, obwohl sie herzkrank war und zu hohen Blutdruck hatte, schwer körperlich arbeiten, um uns zu ernähren. Sie starb 1958 mit 59 Jahren. Infolge der langen Abwesenheit meines Vaters während seiner Haft hatten wir beide uns auseinander gelebt. Er war ein älterer Herr und ich ein leichtsinniger Teenager. Nach Mutters Tod gestaltete unsere Beziehung sich noch schwieriger, und eines Tages sagte er mir im Zorn, dass ich gar nicht ihrer beider Tochter sei. Das war ein entsetzlicher Augenblick für uns beide. Zunächst schwiegen wir lange, dann erzählte er mir, was er über mein Schicksal wusste. So erfuhr ich also im Alter von 18 Jahren, dass ich ein jüdisches Kind war, das man aus dem Ghetto gerettet hatte. Es war ein gewaltiger Schock. Mir schien, als habe meine Welt innerhalb einer einzigen Sekunde aufgehört zu existieren. Alles, was ich von mir wusste, erwies sich als unwahr. Daher begann ich damit, Spuren aus „jener Welt“ zu verfolgen. Ich fand in Israel und Großbritannien Verwandte, die den Holocaust überlebt hatten; ich sprach mit Menschen, die meine nächsten Verwandten gekannt hatten; ich durchforschte die Archive. Seit Jahren interessieren mich vor allem Menschen, die im Holocaust umkamen, und solche, die überlebt hatten. Das war für mich das Wichtigste. Ich wurde unter einem glücklichen Stern geboren. Ich habe in meinem Leben mehr Gutes als Schlechtes erfahren. Auf meinem Lebensweg traf ich von Anfang an freundliche Menschen. Erst rettete mir jemand das Leben, dann umgab er mich mit Fürsorge, danach bekam ich alles, was ein Kind von seinen Eltern bekommen kann: Liebe, Fürsorge und Familienwärme. Kurz gesagt: ein Volltreffer – und das in jeder Hinsicht.
Joanna Sobolewska–Pyz
hat ein Soziologiestudium an der Universität Warschau abgeschlossen. An der Universität arbeitete sie später auch beruflich. Sie nahm an der Gründungsversammlung der Gesellschaft „Kinder des Holocaust“ in Polen teil. Sie war als langjährige stellvertretende Vorsitzende verantwortlich für die Bildungsarbeit der Gesellschaft. Seit 2012 ist sie Vorsitzende. In den 1980er Jahren arbeitete sie mit der von Steven Spielberg gegründeten sog. „Shoah Foundation“ zusammen. Im Auftrag dieser „Stiftung für die Aufzeichnung der Geschichte von Holocaust-Überlebenden|Survivors of the Shoah Visual History Foundation führte sie Interviews mit 140 Überlebenden durch. Die Idee der Ausstellung „Moi żydowscy rodzice, moi polscy rodzice” stammt von ihr. Sie hat einen Sohn.
Eltern
Anastazja
Sobolewska
(1899–1958)
Als sie starb, sagte sie zu mir: „Rechne mit niemandem. Du bist meine und nur meine Tochter.“ Gerechte unter den Völkern
Halina Grynszpan
geb. Zylberbart
(1914–1943)
Vor einigen Jahren fand ich ein Bild aus der Gymnasialzeit meiner Mutter. Vor dem Gymnasium in Otwock steht zwischen ihren Klassenkameradinnen und Klassenkameraden eine ernsthafte Schülerin mit Brille – Fräulein Hala Zylberbart, meine leibliche Mutter.
Walerian
Sobolewski
(1897–1965)
Als er sich 1943 entschied, ein jüdisches Kind zu retten, war er ein reifer Mann und war sich über die Konsequenzen im klaren. Gerechter unter den Völkern
Tadeusz
Grynszpan
(zm. 1943))