Meine jüdischen Eltern, meine polnischen Eltern
Geboren wurde ich im Warschauer Ghetto. Soviel weiß ich bestimmt.
Meine Geburtsurkunde ist ein silberner Teelöffel mit eingraviertem Vornamen und Geburtsdatum. Ein geretteter Anhang zu einem geretteten Kind. Aus dem Ghetto holte mich Paweł Bussold, der Stiefsohn meiner Adoptivmutter. Er packte mich in eine Kiste, die er unter Ziegelsteinen versteckte, als diese aus dem Ghetto abtransportiert wurden. Meine leibliche Mutter rief mitunter aus dem Ghetto an. Sie hatte Sehnsucht und wollte wenigstens für einen Augenblick die Stimme ihres Kindes hören. Sie hätte sich retten können – auf der arischen Seite* war jemand, der versprochen hatte, sie zu verstecken und für sie zu sorgen. Aber sie machte keinen Gebrauch von dem Angebot. Sie wollte ihre Eltern nicht allein lassen. Ich versuche mir vorzustellen, was meine blutjunge 24-jährige Mutter empfand, als sie ihr Kind fremden Menschen übergab. Sie muss gehofft haben, dass dieses Kind überlebt. Obwohl ich zu klein war, um mich an sie zu erinnern, werde ich meine jüdische Mutter niemals vergessen. Auf einem Foto würde ich ihr Gesicht nicht erkennen, aber ich sehe es in meinen Träumen vor mir.
Meine Adoptivmutter bot mir eine glückliche und liebevolle Kindheit.
Stanisława Bussold war Hebamme und arbeitete mit der „Żegota”* zusammen. Sie streifte sich eine Armbinde mit dem Davidstern über und ging ins Ghetto, um Geburtshilfe zu leisten. Sie brachte auch Kinder von Jüdinnen zur Welt, die sich auf der arischen Seite* versteckt hielten; außerdem nahm sie jüdische Kleinkinder in ihr Haus auf, denen sie später Plätze in polnischen Familien vermittelte. Ich blieb ständig bei ihr. Sie ging damals auf die 60 zu, ihre Kinder waren erwachsen und sie selbst war bereits Witwe. Ich erhielt von ihr unglaublich viel reife, volle und bewusste Liebe. Zudem hatte ich eine geliebte und liebende Kinderfrau, Janina Peciak. Ihre mütterlichen Gefühle waren auch auf mich gerichtet. Ich war ein sehr verwöhntes Kind; denn alle in meiner Umgebung gaben sich Mühe, dass es mir so gut wie nur möglich ging. Meine Mutter schützte mich vor einer verfrühten Kollision mit meiner Geschichte. Sie wollte mir den Stress ersparen und konnte sich nicht vorstellen, dass ich selbst entdecken könnte, dass sie gar nicht meine Mutter war. Sie hatte Angst um mich; sie wollte nicht zulassen, dass eine der Organisationen, die nach jüdischen Kinder suchten, die den Holocaust überlebt hatten, auch nach mir suchte – um mich dann in einer jüdischen Familie unterzubringen. Ich begriff das erst viele Jahre später, als man mir in den USA eine Liste mit Namen von Kindern zeigte, die aufgefunden, aufgekauft und dann nach New York gebracht werden sollten. Auf dieser Liste entdeckte ich mich als eine Fünfjährige. Ich war 17, als ich zufällig erfuhr, das alles, was ich über mich weiß, überhaupt nicht stimmte. Meine Mutter hatte mich nicht geboren, sondern sich nur eines sechs Monate alten Säuglings angenommen. Meine Eltern und meine Familie sind umgekommen und ich bin ein jüdisches Kind, das durch ein Wunder gerettet wurde. Ich wollte meiner Mutter gegenüber nicht illoyal sein, indem ich ihr weh tat. Also sprachen wir jahrelang nicht darüber. Als meine Tochter ein halbes Jahr alt war, verstand ich, was es für meine Mutter hatte bedeuten müssen, sich von ihrem Kind zu trennen. Plötzlich hatte ich es begriffen. So begann ich, nach Spuren meiner jüdischen Familie zu suchen. Meine beiden Mütter, die nicht mehr leben, sind bei mir und werden bei mir sein bis an mein Lebensende. Ihre Anwesenheit erinnert mich daran, dass nichts vernichtender ist als Hass und nichts wertvoller als menschliche Güte.
Elżbieta Ficowska
schloss ein Psychologie- und Pädagogikstudium an der Universität Warschau ab. Sie ist Autorin von Kinderbüchern und sozial tätig. In den 1970er Jahren gehörte sie der demokratischen Opposition in Polen an. Sie beriet Jacek Kuroń und war seine Pressesprecherin. Sie wurde 2006 mit dem Offizierskreuz des Ordens Polonia Restituta ausgezeichnet. Von 2002 bis 2006 war sie Vorsitzende der Gesellschaft „Kinder des Holocaust“ in Polen. Sie hat eine Tochter und drei Enkel.
Eltern
Stanisława
Bussoldowa
(1886–1968)
Sie arbeitete mit Irena Sendler zusammen; sie schaffte Lebensmittelkar-
ten ins Ghetto und unterhielt in ihrer Wohnung eine Notfall-Sorgestation für jüdische Kinder.
Gerechte unter den Völkern
Henia Koppel (Koper)
geb. Rochman
(1919?–1943)
Sie war eine hübsche Blondine mit großen grünen Augen. Sie starb am 3. November 1943 im Arbeitslager Poniatowa. Sie war 24 Jahre alt.
Josel
Koppel (Koper)
(1893–1942)
Er war Bankier. Er kam 1942 auf dem Umschlagplatz in Warschau um. Er wurde auf dem Bahnsteig erschossen, als er sich weigerte, den Zug zu besteigen und laut schrie, er habe eine kleine Tochter und könne sie nicht allein lassen.