Meine jüdischen Eltern, meine polnischen Eltern
Im Herbst 1942 hinterließ jemand im Garten der Familie Zalech in Rożyszcze einen weinenden Säugling
Das Kind war unterkühlt, schmutzig und hungrig. An seinem weißen Seidenkleidchen steckte ein Zettel mit der kurzen Nachricht: „Für Familie Zalech. Ich heiße Ewa.“ Das war ich. Davon erfuhr ich erst nach Jahren, als ich mich endlich traute, meine Kusine nach meiner Herkunft zu fragen. Während des Kriegs wohnte sie im selben Haus und erinnerte sich daher an die Umstände, unter denen ich in der Familie Zalech aufgetaucht war. Sie sagte mir, dass meine leiblichen Eltern Juden waren. Mein Vater Dawid Putter war Leiter der örtlichen Schule gewesen, in der Czesław Zalech als Hausmeister gearbeitet hatte. Meine Eltern hatten sich mit mir in den umliegenden Wäldern versteckt. Ukrainer spürten sie auf und überstellten sie ins Ghetto. Dort gelang es ihnen, einen Polizisten zu bestechen, der mich aus dem Ghetto brachte und im Garten der Familie Zalech absetzte. Kurz darauf kamen meine Eltern ums Leben.
Die Familie Zalech befand sich jetzt ebenfalls in Lebensgefahr
Die Nachbarn waren beunruhigt, weil plötzlich ein fremdes Kind aufgetaucht war. Einer von ihnen, ein Ukrainer, meldete dies der Gestapo. Dank einer Intervention des Ortspfarrers und einer polnischen Dolmetscherin, die bei den Deutschen arbeitete, konnte die Familie Zalech sich aus der Affäre ziehen. Mit Hilfe der Dolmetscherin erhielten meine Eltern ein deutsches Dokument, in dem von Amts wegen bescheinigt wurde, dass ich aus einem polnischen Transport stammte und unterwegs abhanden gekommen sei. Somit war ich ein zweites Mal gerettet; denn nun durfte die Familie Zalew offiziell für mich sorgen. Doch die ukrainischen Nachbarn gaben ihre Sache noch nicht verloren. Mein neuer Vater, der befürchtete, dass bei ihrer Hartnäckigkeit schließlich doch noch die Wahrheit ans Licht käme, entschied sich daher, Rożyszcze sofort zu verlassen. Wir verzogen in ein kleines Dorf, das Irena hieß, wo wir in einem bescheidenen Haus mit zwei Räumen bei der Stiefmutter meines Vaters unterkamen. Nach der Befreiung zogen meine Eltern nach Janów bei Łódź. Dort tauchte 1946 jemand auf, der nach mir suchte. Meine Adoptiveltern, die mich inzwischen liebgewonnen hatten, wollten mich aber nicht abgeben. Meine Mutter erzählte mir schaurige Geschichten, um mir Angst vor Fremden zu machen. Der Erfolg war, dass ich des Nachts oft schreiend aufwachte. Meine Eltern befürchteten, ich könnte entführt werden. Als in Janów eine Angestellte einer Anwaltskanzlei aus Łódź erschien und sich nach mir erkundigte, beschloss mein Vater, in die wiedergewonnen Gebiete* an der Ostsee nach Łeba [Leba], zu ziehen. Nach vielen Jahren erfuhr ich, dass mich damals mein Großvater mütterlicherseits hatte suchen lassen. Er suchte nach mir bis an sein Lebensende. Aus der ganzen Familie war nur ich ihm geblieben. In Łeba erfuhr ich dann, dass ich nicht zu der Familie gehörte, in der ich seit meiner Kindheit lebte. Ich war damals elf Jahr alt. Nach einem Abendessen im Familienkreis rief mich ein bereits angetrunkener Onkel zu sich, nahm mich in den Arm und brabbelte: „Du gehörst ja nicht zu unserer Familie, … aber wir haben Dich alle lieb.“ Ich stand wie vom Donner gerührt. Ich weinte die ganze Nacht lang. Ich hatte niemand, dem ich mich anvertrauen und zu dem ich gehen konnte. Mich umgab eine Mauer des Schweigens. Damals begriff ich langsam, warum meine Mutter mich nicht mochte und sich über mich lustig machte. Sie hatte sich bestimmt ein hübsches Kind gewünscht, doch ich war mager, ungelenk, traurig und immer erschrocken. Ich habe mich sehr bemüht, wenigstens ein kleines Lob von ihr zu bekommen. Es war vergeblich.
Krystyna Niekrasz
beendete eine Berufsschule für Medizinische Laborantinnen mit Gymnasialschluss und arbeitete als Laborantin an der Medizinischen Akademie in Gdańsk [Danzig]. Sie gehört der Gesellschaft „Kinder des Holocaust“ in Polen an, Sie hat zwei Töchter und zwei Enkelinnen.
Eltern
Anna Zalech
geb. Korczewska
(1912–1994)
Meine Adoptivmutter verlor ihr Kind bald nach dessen Geburt. Auch ihre Ehe war nicht glücklich. Vielleicht konnte sie mich deswegen nicht lieb haben.
Rachela Putter
geb. Bojmel
(zm. 1942)
war Lehrerin, ihre Familie lebte seit Generationen in Wolhynien, in Rożyszcze, Kreis Łuck.
Czesław
Zalech
(1913–1984)
Papa liebte mich auf seine Art. Er stand mir bei, wenn es mit Mamma Schwierigkeiten gab.
Dawid
Putter
(zm. 1942)
stammte aus Lublin, hatte ein Mathematikstudium an der Universität Lwów [Lemberg] abgeschlossen. Er lehnte einen einträglichen Posten in der Landmaschinenfabrik seines Vaters ab und übernahm die Leitung der polnischen Schule in Rożyszcze.